Wolfgang-Borchert Gesamtschule
Begründung für das Thema: Die Begriffe "Heimat und Fremde" haben besonders in den letzten Monaten/ im letzten Jahr eine ganz besondere Bedeutung gewonnen. Der Migrationsstrom ebbt kaum ab, viele Menschen suchen Schutz vor Krieg und sozialem Abstieg und kommen über tausende Kilometer beschwerlichen Weg nach Deutschland - und: nach Recklinghausen. Die Wolfgang-Borchert Schule ist eine Gesamtschule mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlichster Migrationshintergründe. Also eine echte "Mulitkulti-Schule". Darüber hinaus nehmen wir nach und nach immer mehr Flüchtlingskinder auf, die lediglich mit Grundkenntnissen in Deutsch zu uns kommen. Wie können wir also Vorurteile und Unterschiede abbauen? Wie lassen sich Mauern einreißen, die zunehmend durch die Medien aufgebaut werden? Ein Kunstprojekt wird diesem Anspruch gerecht. Im Folgenden wird die Idee konkret beschrieben.
Ziel: Wir möchten mit einem Kunstprojekt Verbindungen schaffen und Vorurteile abbauen. Über die Kunst können Sprachbarrieren überwunden werden und besondere Fähigkeiten entdeckt werden. Das kreative Angebot soll Übergänge erleichtern. Ein Graffiti an einer Wand der eigenen Schule stärkt und fördert die Identifikation. Denn: Für wen ist die Schule was? Ein Stück neue Heimat? Ein Stück Fremde? Wie lässt sich die neue Umgebung für jeden Einzelnen nachempfinden? Der Schulraum kann so zum Mittelpunkt werden und als Ausgangspunkt für ein gemeinschaftliches Projekt sein. Individualität wird ebenso gefordert und gefördert wie Partizipation und Teamfähigkeit. Individuelle Gedanken in einem Prozess gemeinschaftlich zu einem Ganzen zu verbinden, braucht ein hohes Maß an Kooperationsfähigkeit und Toleranz. Dies möchte das Projekt aufgreifen und unterstützen.
Darstellung des Vorhabens: Die Altstadtschmiede http://www.altstadtschmiede.de/ in Recklinghausen ist ein Soziokulturelles Zentrum sowie ein Jugendzentrum, das viele Angebote für Kinder und Jugendliche bereithält. Zu seinem kreativen Angebot gehören Graffiti - Aktionen, die von professionellen Graffitikünstlern geleitet werden. Markus Becker ist vor Ort Ansprechpartner und hat den Stammtisch für Graffitikünstler der Region ins Leben gerufen. Mit ihm zusammen möchte der Ergänzungskurs Kunst des 9. Jahrgangs und Flüchtlingskinder ein Graffitiprojekt durchführen, das das Thema "Heimat - Fremde" aufgreift und Jugendliche unterschiedlicher Nationen zusammenbringt. Ablauf: In einem ersten Teil werden die Jugendlichen mit dem Thema "Heimat-Fremde" konfrontiert und sensibilisiert. Was bedeutet Heimat? Was bedeutet Fremde? Ganz individuelle Lösungen werden eingefordert und jeder Einzelne formuliert Gedanken, Assoziationen, Vorstellungen und Erinnerungen. Nach einer Sammlung der Assoziationen und Ideen wird die Gruppe in die Technik des Graffitimalens und - zeichnens eingeführt. Eine Übungsphase ist geplant, um in der endgültigen Arbeit, motivierende Ergebnisse zu erzielen. Nach dem eine "Sicherheit" in der Gestaltung von Graffitis gewonnen wurde, werden die eingangs gesammelten Aspekte zum Thema "Heimat-Fremde" wieder aufgegriffen und gemeinsam zu einem Gesamtbild kreativ vereint. Dabei ist es wichtig, dass jede Idee in der Abschlussarbeit zu erkennen ist. Diese Phase findet im Kunstraum statt Foto Eine Außenwand der Schule Durchgang vom Hauptgebäude zu den Turnhallen - Foto dient in der Durchführungsphase als Basis. Durch die professionelle Unterstützung von Markus Becker können die Jugendlichen einen Teil "ihrer" Schule gestalten und mit ihren eigenen Ideen sichtbar machen. Die Schulöffentlichkeit wird insofern mit einbezogen, als dass die Arbeit im Freien und von vielen Seiten sichtbar ist. Diese Arbeit findet in Tagesprojekten statt, um eine konzentrierte Arbeitsphase zu gewährleisten. Abschließend wird eine kleine Ausstellungsfeier das Ergebnis würdigen und Lehrkräfte, Eltern und Schülerschaft dazu einladen.
Viele der Schülerinnen und Schüler des Ergänzungskurses Kunst haben selbst Migrationshintergrund. Die Frage "Was bedeutet für dich eigentlich Heimat? Was bedeutet für dich Fremde?" wurde in einer Art Mind-Map beantwortet. "Wenn wir in die Türke zu unserer Familie fahren, werde ich irgendwie als Ausländer gesehen. Wenn ich hier in Deutschland bin, fühle ich mich auch nicht als Deutscher. Manchmal stehe ich zwischen den Stühlen. Doch eigentlich sind beide Länder meine Heimat.", sagt Medine. Der Zerrissenheit wurde von anderen bestätigt und zeigt, dass es nicht leicht ist. Trotzdem war es für alle klar: Heimat bedeutet Geborgenheit, Zu Hause, Familie, Freunde, Sicherheit.
Die Fremde wurde von ihnen mit Ungewissheit, Neues, Angst oder Neugier beschrieben.
Die Schülerinnen und Schüler haben in einer ersten kreativen Umsetzung versucht, skizzenhaft oben genannte Begriffe zeichnerisch umzusetzen. Zunächst wurden die einzelnen Schriftzüge im Graffiti Stil gestaltet. In einem zweiten Schritt galt es, Schrift und Bild miteinander zu verbinden.
Markus Becker konnte durch seine langjährige Erfahrung als Graffiti-Künstler bestimmte Kniffe und Tricks den Schülerinnen und Schülern besondere Hilfestellungen geben. Die kreative Gestaltung hatte dadurch individuellen Erfolg, der die Motivation steigerte.
Gemeinsam hat die Gruppe dann Schülerinnen und Schüler eingeladen, die seit kurzem erst in Deutschland sind, eine Sprachvorbereitungsklasse besucht haben und jetzt in den Regelunterricht integriert werden. Sie kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern: Syrien, Afghanistan, Polen, Bulgarien, Ungarn….
Der Kunstraum wurde als kleines Café umgewandelt. An einer großen Tafel haben die Schülerinnen und Schüler des Kunstkurses bei Kuchen und Apfelschorle die Gastgeberrolle eingenommen und die neuen Schülerinnen und Schüler herzlich willkommen geheißen. Die Frage von Elena "Und? Habt ihr wirklich Krieg erlebt?" kam plötzlich, aber brach das anfängliche Eis sofort. Die Kinder haben sofort berichtet. Mohamed erzählte, dass sie in Syrien nur jeden zweiten oder dritten Tag in die Schule gehen konnten. Oft haben Bombeneinschläge den Unterricht unterbrochen und sie mussten die Schule verlassen, um Schutz in anderen Häusern zu suchen. Habib berichtete, dass seine Eltern noch in Afghanistan seien und er mit seinem Bruder allein, in einer Gruppe von Fremden, weiter zu Fuß Richtung Deutschland gelaufen ist. Es kam öfter vor, dass sie nichts zu essen hatten und ihren Hunger mit Blättern oder Gras stillten.
Die Frage "Was bedeutet Heimat für dich?" erzeugte bei Nour einen Weinkrampf und sie musste zunächst vor die Tür gehen, um sich zu beruhigen.
Patryck berichtete, dass er mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen ist, weil sein Vater in Polen keinen festen Arbeitsplatz bekam. Die Frage "Wie bist du denn nach Deutschland gekommen?" wurde von ihm "mit dem Auto!" beantwortet. Ein klarer Kontrast zu den Erzählungen von Mohamed und Habib.
Die Gastgeber waren erstaunt, überrascht und zutiefst bewegt. Elena weinte mit Nour mit, viele konnten die Aussagen nicht glauben. "Man hört das alles immer nur im Fernsehen und Radio, irgendwie ist das so weit weg. Jetzt ist es so nah!" Und Dennis sagte nur leise: "Und ich dachte, wir haben Probleme. Wie lächerlich im Gegensatz zu ihren Erfahrungen."
Anschließend haben alle mit Hilfe von Markus noch einmal ihre Erlebnisse skizzenhaft festgehalten. Der Austausch und die Stimmung waren intensiv.
Sirin hatte die Erzählungen stichwortartig aufgegriffen, um die Details nicht zu vergessen.
In der letzten vorbereitenden Arbeitsphase wurden die Buchstaben der Wörter "Heimat-Fremde" aufgeteilt. Jeder Schüler/ Jede Schülerin hatte sich einen Buchstaben notiert und diesen dann mit Bildern aus den Erzählungen der Zuwandererkinder kreativ gestaltet.
So entstand zum Beispiel aus dem "F" ein fast martialisch anmutender Buchstabe - Ein Maschinengewehr mit zwei Messern. Krieg in der Heimat macht die Heimat zur Fremde.
Das "D" ist in einem tränenden Auge integriert. Dennis hat es gestaltet und erklärt:
"Viele haben sicherlich Dinge gesehen, die sie besser nicht hätten sehen sollen!".
Das Symbol der Welt, die Risse hat und deutlich zeigt, wie instabil die Menschen sind, hat Sirin und Laura gezeichnet.
Am Ende waren die Skizzen soweit fertig, dass es endlich an die Umsetzung an der Hauswand gehen konnte.
Zwei Tage Projektarbeit:
Donnerstagmorgen traf sich die Gruppe im Pavillion der Schule. Für Verpflegung war gesorgt und Markus begann die technische Einweisung mit dem Umgang der Spraydosen durchzuführen.
Anschließend ging es nach draußen. Markus Becker teilte die Wand ein, so dass jeder Buchstabe ein eigenes Feld bekam. Und los ging es. Mit Leitern und voller Elan machten sich die Schüler zunächst etwas zaghaft an die Gestatlung mit Spraydosen direkt auf die Wand. "Fehler machen nichts. Es kann immer wieder übersprüht werden.", hatte Markus erklärt, so dass die anfängliche Angst, etwas falsch zu sprühen, schnelle überwunden wurde.
In den Pausen sahen viele der anderen Schülerinnen und Schüler zu, haben ihre Meinung geäußert und nachgefragt.
Auch am Freitag, trotz des schlechten Wetters, war die Stimmung kreativ und die Wand nahm zunehmend Gestalt an.
Das "i" in Heimat stand für die Festung, das Zuhause. Ein Bild eines Bombenanschlags wurde ebenfalls aus den Erzählungen integriert.
Die Darstellung der syrischen Flagge löste Diskussionen aus. 2 Sterne? 3 Sterne? Grün? Blau? Die Entwicklungen in Syrien sollten mit einbezogen werden, doch dann entschieden sie sich für die Darstellung der Flagge vor Kriegsausbruch.
Die türkische und deutsche Flagge zeigt, dass Deutschland schon lange interkulturell gut zusammenlebt. Viele der Kinder haben einen türkischen Hintergrund.
"Wir wachsen mit immer mehr Kulturen zusammen!", sagt Medine.
Die Recklinghäuser Zeitung kam und berichtet am Freitag direkt über das Projekt.
Am Ende waren alle stolz, dass nun ein so wichtiges Thema, kreativ und für alle sichtbar an der Schule zu sehen ist.